Würde gegen Leistung

„Wenn Eure Sportler Erfolg haben wollen, müsst Ihr sie kaputt machen.“
 
Der Leistungssport ist kein Gesundheitssport, das weiß jeder und jeder, der sich mit diesem identifiziert, nimmt die Risiken für seinen Körper oder die Körper seiner Athleten in Kauf. Fast täglich werden wir damit auch in den Medien konfrontiert, man denke nur an den Vorfall mit dem dänischen Fußballer, der bei der EM 2021 auf dem Platz reanimiert werden musste. Und den der medizinische Vertreter der UEFA lapidar kommentiert: „Herzstillstand ist bei Sportlern gar nicht so selten.

Auch ich habe viele Jahre, sogar Jahrzehnte als Leistungsathlet, als Landestrainer, Nationalcoach und Heimtrainer gearbeitet und trainiert und war mit diesem Dilemma konfrontiert.  Aber richtig bewusst war es mir nie – bis ich diesen Satz gehört habe.

„Wenn Eure Sportler Erfolg haben wollen, müsst Ihr sie kaputt machen.“
Dieser Satz fiel während einer Trainerfortbildung, und er war ein Augenöffner für mich. 



Vielleicht war ich bis dahin einfach naiv, denn der Leistungssport begleitete mich da schon viele Jahre. Aber in seiner erschreckenden Einfachheit zeigte mir diese Bemerkung unvermittelt auf, wie pervers das gesellschaftlich dominante Leistungsprinzip eigentlich ist. Und bewegte in mir eine radikale Veränderung meiner Sichtweise auf das Prinzip „Leistung“ – im Sport, aber auch in unserer Gesellschaft im Allgemeinen.

Man kann trefflich über den Sinn und Unsinn von Leistungssport diskutieren und sicherlich hat der Leistungssport viele gute Seiten und Funktionen. 
Aber wegen einer Leistung, deren Bewertung letztendlich Anderen – zum Beispiel Schiedsrichtern – und nicht dem Leistungserbringer unterliegt, die körperliche und seelische Integrität seiner Selbst oder die eines Anderen infrage zu stellen und bewusst zu verletzen, das ist schon ein heftiges Beispiel für Würdelosigkeit, Respekt- und Achtlosigkeit. 
 
Und dasselbe Prinzip gilt leider noch für unsere Arbeitswelt in den allermeisten Organisationen. 

„Wenn unsere Mitarbeiter Erfolg haben wollen, müssen wir sie über ihre Grenzen bringen.“ oder „Wenn ich weiterkommen will, muss ich mehr als 100% geben.“ Nur wer definiert die Grenzen? Die Betroffenen? Eher selten. In aller Regel die, die mit dem Gehaltsscheck wedeln. Hierarchischer Druck allenthalben. Wer „Nein“ sagt, befürchtet Konsequenzen und sagt lieber „Ja“. Was nicht umbringt, macht stark: Druck statt Motivation.
Die dramatischen Folgen kennen wir. 
Wir verletzen unsere oder die Würde der Anderen, weil wir uns und andere zum Objekt unserer Erwartungen machen, mit Ängsten jonglieren und uns und andere erpressen; und letztendlich die Folgen für unser Sein negieren, verleugnen oder sogar lächerlich machen: „Jetzt stell dich nicht so an, sei kein Schlappschwanz…“. Wer schwächelt, wird im Rudel auf den letzten Platz gebissen. Das Alphatiergehabe prägt das Denken der Menschen und es prägt sich damit tief in die DNA einer Organisation ein. 
 
Um dem nachhaltig entgegenzuwirken benötigt es Mut, neue Wege zu gehen und unkonventionell zu denken und zu handeln. 
Auf beiden Seiten, bei denen die Leistung geben und bei denen, die Leistung fordern. Und oft genug sind beide Seiten in einer Person vereint. Beide Seiten müssen stark gemacht werden, Leistung neu zu definieren; eine Definition, die vor allem auf dem Prinzip der Ausgewogenheit beruhen sollte und die individuellen Fähigkeiten und das Leistungsvermögen eines jeden berücksichtigt. Stärke in Form von emotionaler und sozialer Intelligenz, die es erlaubt, zu verantwortungsvoll führen und nicht zu unterdrücken. Die es erlaubt, sich selbst zu führen und körperliche, geistige und seelische Eigenverantwortung zu tragen. Dies erfordert Kompetenzen, die selten in Bewerbungsschreiben enthalten sind: eine gesunde Selbstwahrnehmungsfähigkeit, Selbstregulierung, Selbstführung, Empathie und das Vermögen, Beziehungen achtsam zu gestalten. Um die eigenen und die Grenzen Anderer nicht zu überschreiten.
 
Wie oft habe ich im Coaching gemerkt, dass Menschen es verlernt haben, sich zu spüren, ihre Bedürfnisse wahrzunehmen und zu artikulieren. Und genau das ist der Schlüssel: Es wird das Spüren wichtig, das Zuhören, Reflektieren und bewusste Wahrnehmen von Bedürfnissen und evolutionären Entwicklungen. Dies verändert die Haltung zur Leistung und ihre Qualität, es wird Leistung auf einer Ebene erbracht, die von Nachhaltigkeit, Ressourcenschonung und Würde geprägt ist. 
Dies gilt für den Menschen und die Organisation gleichermaßen. 
 
Denn letztendlich ist der Mensch die Organisation – und nicht umgekehrt.

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